Wenn ich an Kindheit denke, dann fallen mir sofort folgende Worte ein:

Unbeschwertheit, Spielen, Lachen.

 

Die Kindheit sollte die schönste Zeit im Leben eines Menschen sein. Ein Einstieg, eine Zeit vor der großen Verantwortung, die ein jeder zu tragen hat. Eine Zeit, in der uns das gemeinsame Spielen mit Freunden, die ersten Schuljahre und die erste Schwärmerei prägen. 

Kindheit soll schön sein, ein bisschen verrückt und verspielt und von Liebe geprägt.

 

Doch was passiert, wenn diese unbeschwerten Jahre von einen auf den anderen Tag beendet werden?

 

Wenn Steffi an ihre Kindheit denkt, fällt ihr nur die schlimmste Zeit ihres Lebens ein. Im Alter von neun Jahren wird Steffi von einem Freund ihres Vaters vergewaltigt. Aus einem beliebten und aufgeschlossenen Kind wird von Heute auf Morgen eine Einzelgängerin, die sich lieber zu Hause versteckt, als einen anderen Menschen an sich heranzulassen.

Was macht so eine Tat mit der Seele eines neunjährigen Mädchens? Wie soll sie das verkraften?

 

»Für mich war alles dunkel und schwarz.«

 

Die Antwort: Es ist unmöglich!

Steffis Mutter, die sich zu diesem Zeitpunkt gerade vom Vater ihrer Tochter getrennt hat, bekommt von alledem nichts mit. Steffi versteckt ihre Gefühle bewusst, um ihr nicht noch mehr Schmerzen zuzufügen, die sie durch die Trennung ohnehin zu erleiden hat. Das junge Mädchen weiß, dass ihre Mutter sie sofort zur Polizei bringen würde, doch genau das will sie nicht. Ihre Geschichte wieder und wieder zu erzählen, hätte sich für Steffi so angefühlt, als würde sie die schreckliche Tat immer neu erleben. Um sich selbst zu schützten, schweigt sie.

 

»Ich wollte einfach nur vergessen.«

 

Steffi isoliert sich mit jedem Tag mehr und denkt, wenn sie keine Freunde hat, kann ihr auch nichts Schlimmes mehr passieren. Sie spricht kaum noch und sucht Trost im Essen. Auch gegenüber Fremden ist sie schüchtern und verschlossen. Die einzige Person, zu der Steffi noch gern geht und die ihr unbewusst Halt schenkt, ist ihre Großmutter. Doch auch ihre Liebe reicht nicht aus, um das junge Mädchen aus ihrem Tief zu ziehen.

 

»Ich habe oft daran gedacht, einfach Tabletten zu nehmen und mich damit umzubringen.«

 

Doch Steffi fehlt der Mut, sich selbst das Leben zu nehmen.

 

Je älter sie wird, desto mehr Halt sucht sie in der Musik und im Lesen von Büchern. Steffi heilt sich selbst und versucht ihre Vergangenheit Stück für Stück zu verarbeiten. Bis heute hat sie nie eine Therapie gemacht. Stattdessen schreibt sie ein Buch, das ihr hilft, ihre Situation zu verstehen.

Mit achtzehn Jahren erfährt Steffi plötzlich ein Umdenken. Ihre Sehnsucht nach Aufmerksamkeit und Liebe wird laut. Sie lässt sich auf eine Beziehung ein, doch ihr Glück findet sie nicht.

 

»Ich konnte mich nie fallen lassen.«

 

Mit zwanzig Jahren lernt sie ihren heutigen Ehemann über eine Zeitungsanzeige kennen. Steffi hat von Anfang an ein gutes Gefühl, das sie bis heute nicht täuschen soll. Nach vierzehn Tagen Beziehung nimmt sie ihren Mut zusammen und macht ihrem Mann einen Antrag. Bereits nach einem Jahr heiraten die beiden und erwarten das erste Kind. Steffis Mann weiß, was ihr widerfahren ist, und hilft ihr, die ganze Sache aufzuarbeiten. Seinen Vorschlag, eine Therapie zu machen, schlägt sie allerdings nach wie vor aus.

 

Heute ist Steffi dreiunddreißig Jahre alt und Mutter von drei Kindern - zwei Söhne und eine Tochter. Besonders ihre Tochter beobachtet sie mit Argusaugen, aus Angst, ihr könnte das Gleiche widerfahren. Doch sie versucht, es ihre Tochter nicht spüren zu lassen. 

Steffi sieht nach vorn. Sie schließt eine Ausbildung zur Krankenpflegerin ab und liebt ihren Job auch heute noch.

Dass sie nie zur Polizei gegangen ist, bereut sie nicht. Sie wollte sich selbst schützen und das hat sie mit Erfolg getan. Dennoch spricht sie Frauen, die Ähnliches erlebt haben, mehr Mut zu. Niemand soll aufgeben und dem Täter somit noch mehr Macht einräumen. Jeder, der bereit ist, sich Hilfe zu suchen - und diese definiert sich für jeden anders - hat die Möglichkeit wieder ein glückliches und freies Leben zu führen. Steffi selbst hat für sich gekämpft und es geschafft.

 

 

»Vergessen kann man es nicht, man kann aber lernen, damit zu leben und seine Ängste zu bewältigen.«