Emetophobie.

Kaum ein Mensch weiß, was sich hinter dem Namen dieser Phobie verbirgt. Kaum ein Betroffener ahnt, dass es für seine Krankheit überhaupt einen Namen gibt. Ärzte und Psychologen sind ratlos.

Die Angst vor dem Erbrechen wird oft als Überempfindlichkeit abgestempelt. Dabei ist dies eine ernst zu nehmende phobische Krankheit, unter der circa 7% der Frauen und 3% der Männer leiden.

So auch Nicole, die vor etwa zehn Jahren erkennt, dass ihre Angst vor dem Erbrechen über den normalen Ekel hinausgeht.

 

»Je älter ich wurde, desto ausgeprägter wurden mein Ekel und meine Angst.«

 

Wenn Nicole an ihre Kindheit denkt, empfand sie sich zu übergeben nur als unangenehm. Es gab wenige Situationen, in denen es tatsächlich dazu kam. Ihre panische Angst spürt sie zum ersten Mal, als sie mit achtzehn Jahren zu einer Geburtstagsfeier eingeladen ist. Ihr wird schlecht und plötzlich wurde die Furcht, sich zu übergeben, zu ihrem ständigen Begleiter.

 

»Die Angst war nun immer da, und neben ihr eine unangenehme, beinahe tägliche Übelkeit. Immer wieder habe ich diese schrecklichen Bilder im Kopf.«

 

Dennoch versucht Nicole, ihr Leben zu genießen und sich davon nicht unterkriegen zu lassen. Sie geht zu Veranstaltungen und Festen.

 

»Ich versuche, die guten Tage für schöne Erlebnisse zu nutzen und weniger über meine Ängste nachzudenken.«

 

Sie beginnt und beendet eine Ausbildung, stellt sich ihren Prüfungen und auch den folgenden Jobs.

Als sie jedoch einen Kreislaufzusammenbruch im Zug erleidet, gibt sie ihren Job aus Angst, es könne wieder passieren, auf. Seitdem ist Nicole nie wieder in einen Zug gestiegen.

Ihr Ekel und ihre Hilflosigkeit führen zu Erschöpfung. Sie hat Angst davor, sich in der Öffentlichkeit zu übergeben und empfindet Scham. Auch die Angst vor Viren und giftigen Substanzen wird zu einem ständigen Begleiter der Betroffenen.

Immer öfter überkommen Nicole neben der Übelkeit auch starke Bauchschmerzen und Durchfall. Sie spürt eine Enge im Hals, bekommt Herzrasen, einen trockenen Mund und Schweißausbrüche.

Weil sie nicht weiterweiß, wendet sie sich an verschiedene Ärzte, doch niemand kann der jungen Frau helfen. Die Angst käme von der Psyche, so die Aussagen der Ärzte. Nicole fühlt sich unverstanden und im Stich gelassen. Als sie einen Psychologen aufsucht, geht er das Thema völlig falsch an und sie verliert erneut die Hoffnung, dass man ihr helfen kann.

 

Vor etwa einem Jahr erfährt Nicole nur durch einen Bericht im Fernsehen, dass sie eine Krankheit hat und wie deren Name lautet.

Emetophobie.

 

2009 lernt Nicole ihren Mann kennen und spricht mit ihm offen über ihre Panik. Als sie etwas später schwanger wird, steht Nicole augenscheinlich vor einem Konflikt. Doch ihre Angst vor dem Erbrechen macht ihr ihren Kinderwunsch nicht kaputt.

 

»Wenn man sich ein Kind von Herzen wünscht, ist einem alles andere egal.«

 

Es ist Nicole lieber, sich aufgrund der Schwangerschaft zu übergeben als wegen einer Krankheit. Zu ihrem Glück musste sie sich während der Schwangerschaft nie übergeben und auch die Übelkeit trat nur bei unangenehmen Essensgerüchen auf.

Sie bringt einen gesunden Jungen auf die Welt.

Es ist für sie eindeutig, ihr Glück noch ein zweites Mal herauszufordern.

 

»Natürlich wusste ich, dass jede Schwangerschaft anders ist und dass diesmal alles anders sein konnte, doch die erste Schwangerschaft hat mir Hoffnung gemacht.«

 

Anstatt von Übelkeit und Erbrechen gequält zu werden, verunsichern Nicole Zweifel. Ist sie in der Lage, sich auch um ein zweites Kind zu kümmern?

Neun Monate später erblickt ein kleines Mädchen die Welt.

 

Nicole merkt schnell, dass das neue Familienleben sie aufgrund ihrer Phobie schnell an ihre Grenzen bringt. Der Umgang mit ihren Kindern fällt ihr sehr schwer. 

Als ihr Sohn in den Kindergarten kommt, steckt er sich häufig bei den anderen Kindern an. Wenn er sich übergeben muss, kann Nicole sich nicht um ihn kümmern. Sie beginnt zu zittern, hat Herzrasen, ihr wird schlecht und Tränen steigen ihr in die Augen. Weil sie sich schreckliche Vorwürfe macht, leidet sie unter Schlafstörungen.

Nicole fühlt sich als schlechte Mutter und wird zusätzlich von ihrem Mann unter Druck gesetzt, der erwartet, dass sie ihre Pflichten als Mutter und Hausfrau erfüllt.

 

»Ich fühlte mich wie in Trance und habe getan, was zu tun war.«

 

Doch auch das geht auf Kosten der Gesundheit der jungen Mutter.

Nur wenige Menschen in ihrem Umfeld wissen von ihrer Angst sich zu übergeben. Angehörige wissen oft nur selten, was in Betroffenen vorgeht und fühlen sich daher hilflos. Da Betroffene wie Nicole sich nur Verständnis und Akzeptanz wünschen, entsteht ein Kreislauf, unter dem beide Seiten zu leiden haben.

Trotz dieser Hürden bereut Nicole es nicht, ihre Kinder bekommen zu haben. Wegen ihnen ist das Leben lebenswert. Ihr Sohn ahnt bereits, dass etwas mit ihr nicht stimmt, und Nicole hat sich fest vorgenommen, eines Tages mit ihren Kindern über ihre Phobie zu sprechen.

 

»Ich werde versuchen, so oft wie möglich stark zu bleiben. Für meine Kinder, für mich.«

 

Momentan findet Nicole Hilfe in einer Facebook-Gruppe, die sich mit dem Thema Emetophobie befasst. Andere Betroffene sprechen ihr Mut zu und empfehlen ihr Ablenkungen wie Spaziergänge, Tee und bestimmte Atemtechniken. Für Nicole selbst funktioniert es am besten, sich mit Lesen oder Handyspielen abzulenken.

 

»Ich habe dadurch gelernt, Angstübelkeit von echter Übelkeit im Magen zu unterscheiden und kam so von den Medikamenten weg, die ich gegen die Übelkeit genommen habe.«

 

Nicole ist sich sicher, dass sie ohne den Austausch in der Gruppe in viel mehr Situationen unter Angst leiden würde.

Heute bekommt sie nur noch in Akutsituationen Panikattacken, zum Beispiel bei einer direkten Konfrontation mit dem Erbrechen. Dann verliert sie die Kontrolle und benötigt einige Tage, um sich davon zu erholen.

Während anderen Betroffenen durch eine Konfrontationstheraphie geholfen wird, schließt Nicole das für sich, aus Angst es könnte schlimmer werden, aus.

 

»Eine Auszeit, um eine lästige Phobie behandeln zu lassen, ist für mich persönlich undenkbar.«

 

Dennoch findet Nicole eine Möglichkeit, mit ihrer Krankheit umzugehen. Heute arbeitet sie als freiberufliche Autorin. Auch über ihre Krankheit schreibt sie ein Buch, mit dem sie nicht nur Betroffenen helfen, sondern auch Angehörigen die Augen öffnen will. Zudem macht sie auf im Fernsehen, so wie kürzlich bei RTL, auf ihre Krankheit aufmerksam. Ein wichtiger Punkt für die junge Mutter, die bereits eine zweite Fernsehanfrage hat.

 

»Wir SIND so. Wir HABEN diese Phobie und wir LEIDEN tatsächlich darunter, körperlich ebenso wie seelisch. Eine Phobie kann man nicht rechtfertigen, sie hat uns fest im Griff und kommt oft so schnell, dass man es kaum realisieren kann. Für die Zukunft wünsche ich mir, irgendwann ganz ohne Angst leben und in akuten Situationen stark bleiben zu können.«

 

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Wer mehr über Nicoles Geschichte erfahren will, kann dies in ihrem Buch »Emetophobie – die Angst, die auf den Magen schlägt«. Der Roman hat mir bei der Recherche für den Artikel sehr geholfen. Zitate wurden mit dem Einverständnis der Autorin entnommen.