Es ist der 8. Dezember 1992, als die damals einundzwanzigjährige Silvia mit dem Auto zur Werkstatt fahren will, um das Radio einbauen zu lassen. Sie nähert sich einem langsam fahrenden PKW, setzt zum Überholen an und bemerkt, wie der Fahrer des PKW´s beschleunigt und sie angrinst. Als ein anderer Wagen von vorn kommt, bremst sie, um wieder hinter dem PKW einzuscheren, doch dieser bremst ebenfalls und nimmt ihr jede Chance, dem Gegenverkehr auszuweichen. Silvia reißt in letzter Sekunde das Steuer herum, verliert die Kontrolle über ihr Auto und überschlägt sich.

Das ist der Moment, in dem sich Silvias komplettes Leben ändert.

 

Sirenengeheul. Blaulicht. Panische Stimmen. Menschen, die ihr helfen. Hubschrauber.

Künstliches Koma. Dunkelheit!

 

Silvia steht eine Zeit bevor, die sie nur verschwommen wahrnimmt. Wirre Träume umgeben sie, in denen sie niemand versteht, wenn sie zu sprechen versucht. Niemand erkennt sie, niemand bemerkt sie. Immer wieder lässt sie die Dunkelheit, Träume von Unfällen erleben und sie eine Hilflosigkeit spüren, die sie bis dahin nicht kannte.

 

Viele Wochen später verringern die Ärzte die Medikamente und holen Silvia so aus dem künstlichen Koma. Je länger ihre Wachphasen werden, desto mehr versucht sie zu realisieren, was geschehen ist. Sie hatte einen Autounfall, sie ist schwer verletzt, ihre untere Gesichtshälfte ist zertrümmert und der Mensch, der dafür verantwortlich ist, hat Fahrerflucht begangen.

 

»Dieses Grinsen wird mich noch lange Zeit in meinen Träumen verfolgen.«

 

Sechs Monate Krankenhaus stehen Silvia bevor. Sechs Monate, in denen sie mit Todesängsten, dem demütigenden Gefühl von Hilflosigkeit und der Ungewissheit, wie ihr Leben weitergehen wird, klarkommen muss. Sie hasst die aufbauenden Sprüche der Schwestern, der Ärzte und ihrer Therapeutin. So sehr Silvia sich auch wünscht, alles würde wieder gut werden, so glaubt sie mit ihren jungen Jahren doch nicht daran. Sie hatte ihr ganzes Leben noch vor sich und nun soll alles anders sein?

Nach dem Unfall wird Silvia, wie sie selbst sagt, zu zwei Personen. Die eine Person ist sie wirklich, unsicher, verletzlich. Die zweite ist eine Maske, um sich selbst zu schützen. Niemand soll sehen, wie es ihr wirklich geht, stattdessen spielt sie allen nur die junge Frau vor, die ihr Schicksal mit einer gehörigen Portion Selbstironie nimmt ... alles nur, um kein Mitleid mehr zu bekommen.

Ihre Familie gibt ihr den Halt, den sie braucht und vor allem ihr Mann Jörg besucht sie jeden Tag. Er ist der Einzige, der es schafft, Silvia von Zeit zu Zeit ihre wahren Gefühle zu entlocken. Und doch gibt es zwei Dinge, die für Silvia ungewiss bleiben. Wie sieht ihr Gesicht nach dem Unfall aus? Wird ihre kleine Tochter Julia sie erkennen, wenn sie sie zum ersten Mal wiedersieht?

 

Als Silvia nach dem Unfall zum ersten Mal ihr Gesicht im Spiegel sieht, bezeichnet sie diesen Tag als den schlimmsten ihres bisherigen Lebens. Sie kann den Anblick nicht ertragen und bricht in Tränen aus.

 

»Ich hielt mich in diesem Moment selber für ein Monster.«

 

Nun ist sie noch verunsicherter, wie ihre kleine Tochter reagieren wird. Doch als ihr Mann Julia endlich mit ins Krankenhaus bringt, ist Silvias Sorge völlig unbegründet. Die Kleine stört sich nicht am Aussehen ihrer Mutter, sie liebt sie weiterhin bedingungslos.

Das ist eine Eigenschaft, die wir Erwachsene uns von den Kindern abschauen sollten. Silvia muss viele Erfahrungen machen, in denen ihr aufgrund ihres Aussehens Ablehnung entgegengebracht wird. Man sieht sie komisch an, geht ihr aus dem Weg und ihre sogenannten Freunde wenden sich von ihr ab. Vor allem Letzteres trifft Silvia schwer, die sich lediglich wünscht, dass man sie in dieser Situation nicht allein lässt. In Zuge dessen ist es kein Wunder, dass Silvia diese Zweifel auch auf ihren Mann projiziert.

 

»Wer konnte so was schon noch lieben?«

 

Doch Jörg hält zu ihr, wie er es bei der Hochzeit geschworen hat, in guten wie in schweren Tagen. Und so ist er auch da, als Silvia das Krankenhaus endlich verlassen kann und nach Hause gehen darf. Seit Anfang an hatte Silvia sich das gewünscht. Als es dann so weit ist, fühlt sie sich jedoch fremd. Zu wissen, dass das Leben hier ohne sie weitergegangen ist, ist ein beklemmendes Gefühl, mit dem sie nicht umzugehen weiß. Dazu kommt, dass sie Angst hat, das Haus zu verlassen, sich den Nachbarn und anderen Menschen in der Öffentlichkeit zu stellen. Wie würden sie reagieren? Wie würden sie sie ansehen und was würden sie sagen? Es ist schließlich ihre Zwillingsschwester, die Silvia dazu zwingt, ihr Leben wieder zu leben.

 

»In all der Zeit hat sie mich immer so genommen, wie ich war, und hat sich nie geschämt, wenn sie mit mir unterwegs war.«

 

Trotz der Unterstützung und Liebe ihrer gesamten Familie, fällt es Silvia schwer, Normalität in ihr Leben einkehren zu lassen. Aber sie kämpft sich zurück. Auch wenn es weiterhin gute und schlechte Tage für sie gibt, versucht sie doch, das Beste aus ihrer Situation zu machen. Sie weiß, dass sie sich niemals an ihr »neues« Gesicht gewöhnen wird, aber sie strengt sich an, es zu akzeptieren.

Trotzdem kommt es immer wieder zu Rückschlägen, vor allem was die Arbeitssuche angeht. Silvia will sich wieder nützlich machen, aber der Chef ihrer alten Anstellung macht ihr schnell deutlich, dass es mit ihrem Aussehen jetzt für mehr als die Stelle der Spülhilfe nicht reicht. Silvia versucht es als Verkäuferin in verschiedenen Bereichen, doch überall hagelt es nur Absagen. Wer davon ausgeht, dass Pflichtbewusstsein, gute Arbeit und Engagement zählen, der irrt sich. Wie überall wird immer erst das Aussehen bewertet. Silvia erhält einen Rückschlag nach dem anderen, doch auch diese Erfahrungen lehren sie auf ihrem weiteren Lebensweg. Mit dreißig Jahren erhält Silvia endlich die Chance, auf die sie gewartet hat. Sie hat die Möglichkeit eine Ausbildung zur Altenpflegerin zu machen und findet darin ihren Spaß wieder.

 

»Es ist, wie es ist und nur ich kann dafür sorgen, dass es mir gut geht dabei.«

 

Heute vierundzwanzig Jahre nach dem Unfall hat Silvia sich ihr Leben zurückerkämpft, auch wenn sie in manchen Situationen nach wie vor das unsichere einundzwanzigjährige Mädchen ist, dem man von einer Sekunde auf die andere das gesamte Leben aus der Bahn gehoben hat. Sie liebt ihren Job als Altenpflegerin und fährt heute sogar wieder Auto, auch wenn sie in brenzligen Situationen nach wie vor mit ihrer Angst zu kämpfen hat. Nebenbei führt sie nicht nur einen erfolgreichen Bücherblog auf Facebook, sondern schreibt aktuell auch an ihrem ersten Unterhaltungsroman.

 

»Man sollte das machen, was man möchte, es könnte alles so schnell vorbei sein.«

 

Dank ihres Bücherblogs fällt es Silvia wesentlich leichter, wieder auf Menschen zuzugehen, auch wenn sie manchmal noch immer das Gefühl hat, anders zu sein und nicht in diese Welt zu passen.

Doch eines ist gewiss: Silvia hat gekämpft, als sie am Boden lag. Sie hat sich in all der Zeit nicht unterkriegen lassen, ist wieder aufgestanden und lebt ihr Leben trotz allen Rückschlägen. Das macht sie nicht nur zu einem Vorbild für viele andere, sondern auch zu einer der stärksten Frauen, die ich kenne.

 

»Unser größter Ruhm ist nicht, niemals zu fallen, sondern jedes Mal wieder aufzustehen.«

 

 

 

Wer noch mehr zu Silvias Geschichte lesen möchte, dem empfehle ich ihrem Roman über den Unfall: »Es ist wie es ist«.