Jeder Mensch geht anders mit dem Thema Tod um. Während die einen ihre Trauer zulassen, um den Verlust eines geliebten Menschen zu verarbeiten und wieder in ein normales Leben zurückzufinden, blocken andere völlig ab und verschließen sich vor der Außenwelt. Niemand soll ihre wahren Gefühle sehen, niemand soll den Schmerz bemerken, der in ihrem Inneren wütet.

Auf diese Weise verbirgt auch Jo ein Päckchen, das sie seit der Kindheit mit sich trägt.

 

Als Jo gerade neun Jahre alt ist, stirbt ihr geliebter Stiefvater an einer Alkoholvergiftung. Jo liebte ihn über alles und auch er war immer für sie da. Nie ließ er sie spüren, dass sie nicht sein leibliches Kind war. Jos Vater war in jeder Situation für sie da, hielt sie im Arm, verbrachte Zeit mit ihr auf dem Spielplatz und nahm sie mit zu Volksfesten. 

Doch von diesen Erinnerungen ist nach seinem Tod nur noch bitterer Schmerz übrig.

 

»Selbst heute, achtzehn Jahre später, habe ich seinen Tod noch nicht überwunden. Jedes Jahr in der Weihnachtszeit erinnere ich mich daran, wie es war, als ich von seinem Tod erfahren habe. Es war der 4. Dezember 1999. Meine Mutter und er wollten eigentlich im März 2000 heiraten.«

 

Dass Jo in dieser Situation keinen Trost ihrer Mutter erwarten kann, weiß sie.

Das Verhältnis zwischen ihnen ist schon vor dem Todesfall schlecht und bekommt einen erneuten Riss, als ihr Stiefvater beigesetzt werden soll. Jos Mutter verbietet ihr, zur Beerdigung zu gehen, und nimmt ihrer Tochter so die einzige Chance, sich von ihrem Vater zu verabschieden.

Auch achtzehn Jahre später ist Jo, aus Angst vor ihrer eigenen Reaktion und der Endgültigkeit des Todes, noch nicht am Grab des Mannes gewesen, der sie so liebevoll aufgezogen hatte. Immer wieder stellt sie sich die Frage, wie sie sich wohl verhalten würde, würde sie den Mut aufbringen.

 

»Wäre ich emotionslos, fange ich an zu weinen oder breche ich gar zusammen? Ich weiß es nicht und bin mir nicht sicher, ob ich es überhaupt irgendwann erfahren werde. Ich glaube, dass ich keinen Grabstein beweinen muss, um ihm zu zeigen, wie sehr ich ihn liebe, und vermisse.«

 

Jo überlegt lange, wie sie ihren toten Stiefvater in Ehren halten kann, und findet vor einiger Zeit schließlich das richtige Motiv für ein Tattoo. 

 

Ihren leiblichen Vater, einen ehemaligen amerikanischen Soldaten, kennt Jo zu der Zeit noch nicht. Wie viele Kinder ihrer Generation ist auch Jo das Ergebnis einer deutsch-amerikanischen Beziehung. Diese liefen oft nach dem gleichen Schema ab. Amerikanische Soldaten waren in Deutschland stationiert, gingen mit den Frauen im Land aus und versprachen ihnen ein schönes Leben in den Staaten. Geheiratet wurde meistens sehr schnell und auch Nachwuchs ließ nie lange auf sich warten. In Amerika angekommen, stellten die Frauen jedoch schnell fest, dass ihre Männer ihnen falsche Dinge versprochen hatten und ihre Hoffnung auf ein perfektes Leben sich schnell zerschlugen. Man ließ sich scheiden und die Frauen kehrte mit ihren Kindern zurück nach Deutschland, entweder ohne je einen Cent Unterhalt zu sehen, oder, um ihre Kinder vor dem Vater zu schützen. Gewinnen konnte dabei niemand, doch einen klaren Verlierer gab es immer.

 

»Leidtragende sind dabei immer die Kinder.«

 

Seit 2011 hat Jo Kontakt zu ihrem leiblichen Vater, ihren Stiefvater wird er jedoch nie ersetzen können. Das ist eine Sache, die sie dem Mann, den sie bis jetzt nie persönlich getroffen hat, sofort klar macht. Jo hatte ihren Vater und das akzeptiert der Amerikaner.

Auch der Kontakt zu ihrer Mutter zerbricht endgültig, als sie ihren leiblichen Vater in ihr Leben lässt. Zeit vergeht und auf Jo prasseln viele Geschichten und falsche Wahrheiten ein, was die Beziehung ihrer Eltern angeht. Während ihre Mutter behauptet, sie wäre betrogen und nicht gewollt gewesen, beteuert ihr Vater das und schiebt die Schuld auf ihre Mutter. Jo steht zwischen den Stühlen. Anfangs glaubt sie ihrer Mutter, doch ihre Meinung ändert sich nach einem Gespräch mit ihrem leiblichen Vater.

 

»Die traurige Erkenntnis ist, dass ich beiden nicht vertrauen kann.«

 

Ihre Kraft zieht Jo aus ihrer eigenen kleinen Familie. Ihre beiden Kinder sind ihr das Wichtigste und auch ihr Mann lässt ihr die Zeit, die sie vor allem am Todestag ihres Vaters benötigt. 

Knapp siebzehn Jahre nach dem Tod ihres Stiefvaters gerät Jo in eine ähnliche Situation wie ihre Mutter damals. Als die Urgroßmutter ihrer Söhne stirbt, muss sie sich die Frage stellen, ob sie den beiden die Möglichkeit gibt, sich bei der Beisetzung zu verabschieden, oder nicht.

 

»Ich habe mich dafür entschieden, weil ich wusste, wie es sich anfühlt, wenn man nicht Lebewohl sagen kann. Eltern möchten ihre Kinder beschützen, das möchte ich auch. Aber der Tod gehört zum Leben dazu.«

 

Jo setzt sich mit ihren Söhnen zusammen und erklärt ihnen, was vorgefallen ist. Die Kinder sind am Boden zerstört. Während der kleinere der Beiden, die Situation nicht wirklich verstanden hat und noch heute viel darüber nachdenkt, reagiert ihr großer Sohn, der zu diesem Zeitpunkt acht Jahre alt ist, fast wie ein Erwachsener. Obwohl er viel weint, will er sofort die Beerdigung planen.

Im Nachhinein weiß Jo, dass es die beste Entscheidung war, ihre Kinder die Beisetzung der geliebten Urgroßmutter erleben zu lassen. Sie hatten die Möglichkeit, sich zu verabschieden und damit abzuschließen. Das rät sie auch allen anderen Eltern in ihrer Situation.

 

 

»Bezieht eure Kinder mit ein. Lasst sie nicht außen vor, nur weil ihr sie vermeintlich beschützen wollt. Kinder bekommen mehr mit, als man denkt und sie wissen genau, wann man ihnen etwas vormacht oder nicht.«

 

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Diese Geschichte wurde mir anonym erzählt. Alle Namen sind frei erfunden.